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Wie man (zu welchem Zweck) besonders effektiv denkt

Thema erstellt von Grtgrt 
Beiträge: 1.566, Mitglied seit 11 Jahren
Hier zur Diskussion gestellt:

Meine kleine Theorie des Denkens


An mir selbst glaube ich beobachtet zu haben, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Modi des Denkens gibt, die sich — wie in einem Staffellauf — regelmäßig abzuwechseln haben:
  • Wer im Büro vor seinem Schreibtisch sitzt (um dort eine konkrete, vielleicht recht knifflige Aufgabe zu lösen), denkt völlig anders als jemand, der z.B. im Zug sitzt, die Landschaft an sich vorbeiziehen sieht, und dennoch in Gedanken dasselbe Problem wälzt:
  • Im Büro bewegt sich mein Verstand, wie ein Hund, der an einer Leine durch einen Park geführt wird und deswegen den Gehweg um nicht mehr als wenige Handbreit verlassen kann.
  • Im Zug dagegen (genauer: wenn ich meine Gedanken in Muße schweifen lassen kann), bewegt sich mein Verstand — wie jener Hund, wenn er von der Leine gelassen wird — eher neben dem Weg, auch mal weiter von ihm entfernt, und hin und wieder unter diesen oder jenen Busch schuppernd. Nicht selten entdecke ich so, an was ich sonst nie gedacht hätte.

Mir ist zudem schon lange klar geworden:

Sich gedanklich in ein Problem zu verbeißen, kann nur über kurze Zeit hinweg hilfreich sein. Genauer:

  • Als Mathematiker hat man hin und wieder Beweise für Theoreme zu finden, die bis dahin noch niemand bewiesen hatte. Einen Beweis für eine schon lange im Raum stehende Vermutung zu finden, kann Wochen, ja sogar Monate dauern. Sich in diesem Fall zu verhalten, wie ein Roboter, der niemals ermüdet, ist völlig falsch aus folgendem Grunde:
    Wer so einen Beweis sucht, ist vergleichbar mit einer Person, die vor einem Urwald steht, in ihm irgendwo — sagen wir in bestimmter Richtung R(1) — einen kleinen Weiher vermutet und sich jetzt mit einer Machete einen Weg nach dort zu erkämpfen beginnt.
  • Unter der Voraussetzung, dass die vermutete Richtung genau stimmt, wäre man tatsächlich am besten ein Roboter, eine Maschine also, die nie ermüdet. Falls die angepeilte Richtung aber nicht genau die richtige ist, würde der Roboter — eben deswegen, weil er nie ermüdet — den Weiher nie finden: Er würde dann ja unaufhörlich in Richtung R(1) laufen und somit am Weiher vorbei, was schließlich zur Folge hätte, dass er sich immer weiter von ihm entfernt.
    Wer den Weg aber als jemand sucht, der ermüdet und deswegen irgendwann mal innehalten muss, um sich auszuruhen, wird während dieser Ruhepause seinen Verstand „von der Leine lassen“ und dann wahrscheinlich feststellen, dass statt Richtung R(1) eine etwas andere Richtung R(2) die wahrscheinlichere ist (z.B. deswegen, weil man sich plötzlich bewusst wird, dass die bisherige Richtung, aus diesem oder jenem Grund, an den man zunächst gar nicht gedacht hatte oder der erst jetzt bemerkbar wird, nicht wirklich richtig sein kann). Mehrfache Korrekturen solcher Art führen uns dann i.A. wirklich hin zum gesuchten Ort.

Meine Konsequenz daraus:

Die Tatsache, dass der Mensch unweigerlich ermüdet, mag ein Grund dafür sein, dass er kreativ ist, also Dinge findet, die er niemals finden würde, wenn er ermüdungsfrei wäre und so seinen Geist auch niemals „von der Leine lassen“ würde.

Wer jetzt denkt „Hurra, da brauch‘ ich mich bloß ein bisschen auf die faule Haut zu legen und schon wird alles gut“, den muss ich enttäuschen:

Es gibt Aufgaben, z.B. Rechenaufgaben bestimmter Art, die sind so schematisch und dennoch so komplex, dass sie sich wirklich nur mit engelsgleicher Geduld lösen lassen und unter unbeirrbarem Festhalten am einmal gewählten Weg (ich denke da z.B. an Störungsrechnung in der Physik).

Solche Rechnungen aber lösen wir i.A. dadurch, dass wir ein Programm schreiben, das uns gestattet, sie einem Computer zu überlassen — immer vorausgesetzt, wir halten vorher inne, um so zu erkennen, dass dieser Weg der bessere ist.

Dass Leute zu wenig innehalten und deswegen stur wie ein Ochs die Ackerfurche entlang gehen, ist gar nicht so selten. Wenig erfahrene Software-Tester etwa, so meine Beobachtung, werden oft nicht müde, ein und dieselben komplizierten, sterbenslangweiligen Eingaben immer wieder im Dialog zu machen, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, dass den Test zu automatisieren, viel besser wäre (und ihn zudem noch nachvollziehbar machen würde).

Auch das ist ein Beispiel dafür, dass „den Verstand von der Leine zu lassen“ oft effektiver ist, als wild „an der Leine zu zerren“, an der man selbst oder andere ihn zu führen suchen.
 
Beitrag zuletzt bearbeitet von Grtgrt am 26.08.2012 um 23:18 Uhr.
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Beiträge: 1.566, Mitglied seit 11 Jahren
 
Interessant ist auch, welche Art des Denkens man in welchem Alter bevorzugt:


Richard Feynman war einer der wenigen Physiker, die wirklich ihr ganzes Leben lang mathematische Denkwege mit derselben Leichtigkeit gegangen sind, wie rein umgangsprachlich formulierte.

Dennoch war auch ihm schmerzlich bewusst, dass das Alter kein Freund des Physikers ist. An vielen Bürotüren im Caltech hing folgender Vers, den man Dirac zuschreibt, der lange Zeit Feynmans Vorbild war (dessen Widerstand gegen die Renormierungsmethodik Feynman dann aber doch nicht mehr verstehen konnte — was ihm die Wahrheit im Vers wohl besonders präsent machte):


Age, of course, is like a fever chill
That every physicist must fear.
He is better dead than living still
When once he's past his 30-th year.



Man kann diese Beobachtung auf Kreativität ganz allgemein bezogen sehen, doch denke ich, dass insbesondere rein formales Denken uns Menschen mit zunehmendem Alter zunehmend schwerer fällt (ich kann das auch an mir selbst durchaus beobachten).

In diesem Zusammenhang ist eine Studie interessant, die zeigt, dass selbst Leute, die hauptberuflich Wissenschaftler sind, mathematische Formulierung fürchten und zu meiden suchen: siehe den Artikel Schreckgespenst Mathematik.

Das ist schade, denn es könnte schon in wenigen hundert Jahren — dann nämlich, wenn der Mensch gelernt haben wird, Roboter zu bauen, die man von Menschen kaum noch unterscheiden kann — dazu führen, dass Roboter zu einer Art Übermensch werden ...

Isaak Asimov scheint mir ein wirklicher Visionär gewesen zu sein ...

 
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Beiträge: 2.939, Mitglied seit 17 Jahren
Grtgrt schrieb in Beitrag Nr. 1907-2:
(...)
Isaak Asimov scheint mir ein wirklicher Visionär gewesen zu sein ...
Guten Tag Grtgrt, sei gegrüßt.
Ich hoffe inständigst auf Deine Vergebung wenn ich darauf verzichtet habe ein Plakat zu entwerfen.
Aber es gab noch andere visionär begabte...
Zitat:
Wenn diese Hoffnungen sich verwirklichen, daß die Menschen sich mit allen ihren Kräften, mit Herz und Geist, mit Verstand und Liebe vereinigen und voneinander Kenntniß nehmen, so wird sich ereignen, woran jetzt noch kein Mensch denken kann. Die Mathematiker werden sich gefallen lassen, in diesem allgemeinen sittlichen Weltbund als Bürger eines bedeutenden Staates aufgenommen zu werden, und nach und nach sich des Dünkels entäußern, als Universalmonarchen über alles zu herrschen; sie werden sich nicht mehr beigehen lassen, alles für nichtig, für inexact, für unzulänglich zu erklären, was sich nicht dem Calcül unterwerfen läßt.
(Johann Wolfgang von Goethe, (1749 - 1832), deutscher Dichter der Klassik, Naturwissenschaftler und Staatsmann)

Mit den besten Grüßen.
Ernst Ellert II.
Signatur:
Deine Zeit war niemals und wird niemals sein.
Deine Zeit ist jetzt und hier, vergeude sie nicht.
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