Hier zur Diskussion gestellt:
Meine kleine Theorie des Denkens
An mir selbst glaube ich beobachtet zu haben, dass es
zwei grundsätzlich verschiedene Modi des Denkens gibt, die sich — wie in einem Staffellauf — regelmäßig abzuwechseln haben:
- Wer im Büro vor seinem Schreibtisch sitzt (um dort eine konkrete, vielleicht recht knifflige Aufgabe zu lösen), denkt völlig anders als jemand, der z.B. im Zug sitzt, die Landschaft an sich vorbeiziehen sieht, und dennoch in Gedanken dasselbe Problem wälzt:
- Im Büro bewegt sich mein Verstand, wie ein Hund, der an einer Leine durch einen Park geführt wird und deswegen den Gehweg um nicht mehr als wenige Handbreit verlassen kann.
- Im Zug dagegen (genauer: wenn ich meine Gedanken in Muße schweifen lassen kann), bewegt sich mein Verstand — wie jener Hund, wenn er von der Leine gelassen wird — eher neben dem Weg, auch mal weiter von ihm entfernt, und hin und wieder unter diesen oder jenen Busch schuppernd. Nicht selten entdecke ich so, an was ich sonst nie gedacht hätte.
Mir ist zudem schon lange klar geworden:
Sich gedanklich in ein Problem zu verbeißen, kann nur über kurze Zeit hinweg hilfreich sein. Genauer:
- Als Mathematiker hat man hin und wieder Beweise für Theoreme zu finden, die bis dahin noch niemand bewiesen hatte. Einen Beweis für eine schon lange im Raum stehende Vermutung zu finden, kann Wochen, ja sogar Monate dauern. Sich in diesem Fall zu verhalten, wie ein Roboter, der niemals ermüdet, ist völlig falsch aus folgendem Grunde:
Wer so einen Beweis sucht, ist vergleichbar mit einer Person, die vor einem Urwald steht, in ihm irgendwo — sagen wir in bestimmter Richtung R(1) — einen kleinen Weiher vermutet und sich jetzt mit einer Machete einen Weg nach dort zu erkämpfen beginnt.
- Unter der Voraussetzung, dass die vermutete Richtung genau stimmt, wäre man tatsächlich am besten ein Roboter, eine Maschine also, die nie ermüdet. Falls die angepeilte Richtung aber nicht genau die richtige ist, würde der Roboter — eben deswegen, weil er nie ermüdet — den Weiher nie finden: Er würde dann ja unaufhörlich in Richtung R(1) laufen und somit am Weiher vorbei, was schließlich zur Folge hätte, dass er sich immer weiter von ihm entfernt.
Wer den Weg aber als jemand sucht, der ermüdet und deswegen irgendwann mal innehalten muss, um sich auszuruhen, wird während dieser Ruhepause seinen Verstand „von der Leine lassen“ und dann wahrscheinlich feststellen, dass statt Richtung R(1) eine etwas andere Richtung R(2) die wahrscheinlichere ist (z.B. deswegen, weil man sich plötzlich bewusst wird, dass die bisherige Richtung, aus diesem oder jenem Grund, an den man zunächst gar nicht gedacht hatte oder der erst jetzt bemerkbar wird, nicht wirklich richtig sein kann). Mehrfache Korrekturen solcher Art führen uns dann i.A. wirklich hin zum gesuchten Ort.
Meine Konsequenz daraus:
Die Tatsache, dass der Mensch unweigerlich ermüdet, mag ein Grund dafür sein, dass er kreativ ist, also Dinge findet, die er niemals finden würde, wenn er ermüdungsfrei wäre und so seinen Geist auch niemals „von der Leine lassen“ würde.
Wer jetzt denkt „Hurra, da brauch‘ ich mich bloß ein bisschen auf die faule Haut zu legen und schon wird alles gut“, den muss ich enttäuschen:
Es gibt Aufgaben, z.B. Rechenaufgaben bestimmter Art, die sind so schematisch und dennoch so komplex, dass sie sich wirklich nur mit engelsgleicher Geduld lösen lassen und unter unbeirrbarem Festhalten am einmal gewählten Weg (ich denke da z.B. an Störungsrechnung in der Physik).
Solche Rechnungen aber lösen wir i.A. dadurch, dass wir ein Programm schreiben, das uns gestattet, sie einem Computer zu überlassen — immer vorausgesetzt, wir halten vorher inne, um so zu erkennen, dass dieser Weg der bessere ist.
Dass Leute zu wenig innehalten und deswegen stur wie ein Ochs die Ackerfurche entlang gehen, ist gar nicht so selten. Wenig erfahrene Software-Tester etwa, so meine Beobachtung, werden oft nicht müde, ein und dieselben komplizierten, sterbenslangweiligen Eingaben immer wieder im Dialog zu machen, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, dass den Test zu automatisieren, viel besser wäre (und ihn zudem noch nachvollziehbar machen würde).
Auch das ist ein Beispiel dafür, dass „den Verstand von der Leine zu lassen“ oft effektiver ist, als wild „an der Leine zu zerren“, an der man selbst oder andere ihn zu führen suchen.
Beitrag zuletzt bearbeitet von Grtgrt am 26.08.2012 um 23:18 Uhr.
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