Die Reise
Sommer 1990
Die Wirren der Wende schwangen noch das Zepter, jeder neue Tag war für Crank ein Schritt in ein unbekanntes, stockdunkles Zimmer. Jedoch keines, in welches er sich vorsichtig hineintasten konnte; sondern eines, welches er gezwungen war, zu stürmen - mit der sicheren Gewissheit, sich eine blutige Nase zu holen. Die vertrauten Dinge jedes alten Zimmers lösten sich in diesen Zeiten zur Nacht hin sämtlich in Luft auf, inklusive des solide geglaubten Fußbodens.
So wurde die heimische Firma, in der er gerade seine Lehre abgeschlossen hatte, von einer bayerischen Firma übernommen. Crank wusste nicht, ob er dort als Jung-Facharbeiter auch langfristig eine Zukunft hätte. Die Chancen stiegen jedoch versprochenermaßen, wenn man für einige Zeit im damaligen Hauptsitz dieser Firma, der in der Nähe von München lag, aushelfen würde. Also entschloss er sich mit einigen Kollegen, die Reise, die außerdem eine gefühlt riesige Menge neuer heißgeliebter D-Mark versprach, zu wagen.
Crank war nun mittags halbwegs pünktlich am Bahnhof, und ebenso halbwegs erstaunt, keinen seiner Kollegen ebenso pünktlich zum Antritt der Reise vorzufinden. Nun gut... die Heimatfirma war auf dem Fußweg vom Bahnhof aus gut zu erreichen, also beeilte er sich nach einigem Abwarten, dorthin zu gelangen. Da angekommen, eröffnete sein Chef ihm, dass nicht der Bahnhof als Treff geplant war, sondern die Firma! Von dort aus sollten alle mit dem Bus zum Bahnhof des nächsten größeren Ortes gebracht werden. Und dort sollte es dann mit dem Zug weitergehen.
Gemeinsam rasten der Chef und Crank die 30 Kilometer zum anderen Bahnhof. Chef und Auto gaben alles, so dass Crank tatsächlich rechtzeitig in den Zug einsteigen konnte. Ein mittelgroßes Hallo seiner Kollegen ließ ihn erleichtert in den Sitz fallen.
Abenteuerlust und Ungewissheit ließen den Kollegenkreis im Zug schnell aufgekratzt und durstig werden: der mitgenommene Flüssig-Proviant machte schon zu Anfang die Runde und war frühzeitig erschöpft. Glücklicherweise würde der Zug in Leipzig einen mehrminütigen Zwischenaufenthalt tätigen - für die Kollegen geeignet, sich mit dringend benötigtem Reisebegleitmaterial ausreichend für den Rest der Fahrt zu bevorraten.
Der Zug hielt, sämtliche Mitarbeiter begaben sich zügig zur Verkaufsstelle, fanden mit sicherem Blick gewünschte Ware und reihten sich in die etwas längere Schlange zur Kasse ein. Crank war Letzter, jedoch ging das Abkassieren zügig voran. Die unbekannte Person, die sich vor Crank eingereiht hatte, wurde abgefertigt, sie war eine sehr freundliche Person:
Die Frage der Kassiererin: „Haben sie´s etwas kleiner?“ konnte die Person bejahen. Sie begann also sehr zur Freude der Kassiererin sämtliches Kleingeld aus der Geldbörse zu kramen. Das dauerte zwar, aber nun... irgendwann war auch dieser Vorgang zur Zufriedenheit aller Beteiligten abgewickelt: Der schon leicht nervös gewordene Crank kam dran und konnte seine fünf bezahlten Biere endlich in sein Einkaufsnetz (
http://de.wikipedia.org/wiki/Einkaufsnetz ) stopfen und zum Zug eilen.
Nein, Crank verpasste den Zug nicht, wie man voher vermutlich hätte befürchten müssen. Er stieg gleich in das ihm nächst gelegene vorderste Abteil; und das nicht etwa zu früh, denn gleich darauf fuhr der Zug auch los.
Mit dem Netz in der Hand arbeitete Crank sich zum vorletzten Abteil vor, wo seine Kollegen saßen. Seine Verwunderung wuchs extrem schnell zu einer sehr bösen Ahnung heran, als er das letzte Abteil des Zuges erreichte, und nun schon zum zweiten Mal am Tage auf keinen seiner Kollegen traf.
Crank verfügt über die Eigenschaft, in allen Lebenslagen eine gefestigte, tiefsitzende Ruhe nach außen auszustrahlen.
Nun jedoch konnte er eine kleine innere Panikwelle nicht verhindern. Er stiefelte im Zug wieder nach vorn, und traf auf den Schaffner, der Cranks böse Ahnung mittels eines freundlichen Lächelns in die endgültige Form (einer Tatsache) knetete:
Nein, Crank wäre nicht unterwegs nach Hof und München. Er befände sich auf entgegengesetztem Wege nach Frankfurt/Oder.
Das Einkaufsnetz in Cranks Hand schaukelte leicht hin und her.
Allgemein kann man sagen, dass praktische Entscheidungen unserem Helden mehr liegen als tiefe philosophische Erkenntnisse. Nicht, dass er nicht dazu in der Lage wäre, solche zu gewinnen - im Gegenteil. Doch das Leben ist nun mal wie es ist. Entscheidungen werden getroffen, wann sie getroffen werden. Und eine Entscheidung stand nun zweifellos an.
So schrammte in diesem Moment knapp die Einsicht, dass er sich nicht nur für den weiteren Reiseweg, sondern auch für seine berufliche Zukunft entschied, knapp an seinem Bewusstsein vorbei:
Kehrte er abermals um, um seinen Job in der Nähe von München anzutreten, würde dies sehr zu gesicherten existentiellen Vehältnissen beitragen. Nähme er am geeigneten Bahnhof den nächsten Zug nach Hause, würde er sich wohl beruflich umorientieren müssen (was aber zu dieser Zeit nicht unbedingt einen Nachteil bedeutet hätte).
Die Einsteinsche Erkenntnis der heutigen Geschichte lautet also: Der Reiseweg (Raum) beeinflusst die Zukunft (Zeit).
Ein Umstand, der Crank zu einer raschen Entscheidung brachte, war dann jedoch von jener praktischen Natur, die seinem Wesen so entgegenkam: Sein Gepäck war im anderen Zug!
Der Schaffner war bemüht, unserem Falschfahrer zu helfen: Er schlug vor, dass Crank bis Dresden fuhr, und dort einen Regionalzug nach Hof nahm. Von Hof führe ein IC nach München, allerdings über Frankfurt am Main. Doch, und der Schaffner lächelte dabei, jener IC käme insgesamt zehn Minuten früher in München an, als die Bummelzüge, die seine Kollegen nutzten.
(Wir haben recherchiert, weil dies für mich keinen Sinn machte, aber es war wohl zu dieser Zeit wirklich so absurd, der „Ost-West Bahnverkehr“ war wohl praktisch noch nicht vorhanden.)
Crank lächelte bei der Vorstellung, in die erstaunten Gesichter seiner Kollegen am nächsten Morgen auf dem Münchner Bahnhof bei ihrer Ankunft zu sehen. Also löste er das Ticket beim Schaffner bis Dresden. Dort angekommen, kaufte er die Fahrt bis Hof und verfügte dann allerdings nur noch über weniger als zwei Mark Reisegeld. Aber die würden noch eine Rolle spielen.
Crank und ich haben uns bemüht, die zeitliche Abfolge halbwegs genau nachzustellen, dies ist uns nicht gut gelungen. Die Geschichte liegt halt zwanzig Jahre zurück. Man verzeihe also Unstimmigkeiten.
In Hof würde er also in den IC steigen. Auf dem Bahnhof war ihm gar nicht wohl, weil er sich nicht vorstellen konnte, als Schwarzfahrer solange Verstecken mit dem Schaffner spielen zu können. Und es kam natürlich, wie es sich jeder denken kann. Crank verfügt über angeborenes taktisches und strategisches Talent, aber vor Frankfurt am Main war es dann doch soweit. Nachdem der Schaffner seine Personalien aufgenommen hatte, bat er Crank höflich und bestimmt, den Zug in Frankfurt zu verlassen. Auf dem Bahnhof dort überlegte er, wie es nun weiterging. Ein Fremder schlug vor, dass er sich zur Autobahn begeben sollte, und sein Glück als Anhalter versuchen sollte. Mangels Alternativen wurde dieser Plan in die Tat umgesetzt. Crank marschierte los und fand sich nach einer geraumen Zeit auf der Autobahn wieder. Viele freundliche Autofahrer grüßten Crank dort mit ausgelassenen Hupkonzerten, keiner hielt jedoch an, und erlöste unseren Fußgänger.
(Derweil im Radio: „Hier eine aktuelle Verkehrsdurchsage: Auf der Autobahn Frankfurt in Richtung Sowieso läuft ein Fußgänger in Höhe Soundso auf dem Standstreifen.“)
Nach einer halben Stunde Marsch wagte es endlich ein Auto, anzuhalten. Das Anhalten verlief relativ gefahrlos, da das Auto praktischerweise über funktionierendes Blaulicht verfügte. Crank stieg zu, und die freundlichen Polizisten fuhren ihn nach ein paar gut gemeinten Ratschlägen bezüglich Spaziergängen auf Autobahnen zum nächsten Parkplatz. Dort halfen sie Crank, indem sie einen Lkw-Fahrer überredeten, ihn mitzunehmen. Der fuhr jedoch nicht sehr lange in Cranks gewünschter Richtung, aber ein weiterer Lkw nahm ihn bis zu einem Parkplatz in Höhe Würzburg mit. Und dort saß unser Held nun fest. Niemand, aber auch niemand war an einer neuen Reisebekanntschaft interessiert. Nach Stunden verzweifelten Sitzens und Fragens erbarmte sich ausgerechnet eine junge Frau, Crank bis München mitzunehmen. Sie fuhr ihn sogar direkt bis zum Bahnhof! Und von dort aus konnte Crank eine S-Bahn bis direkt zu dem Ort nehmen (was er dann auch tat), der das gewünschte Reiseziel darstellte. Ich war inzwischen wirklich richtig erstaunt, als Crank meine Frage, ob er hier wiederum als Schwarzfahrer aufflog, verneinte...
Es war nun schon spät Abends, die geplante Ankunft am Morgen wurde also um Einiges verfehlt. Aber er war wirklich angekommen!
Nun stellte sich ein weiteres kleines Problem in den Weg. Crank wusste leider nur ungefähr, wie die neue Firma hieß. Aber dieses Geheimnis sollte sich doch problemlos lösen lassen. Tatsächlich lag in einer Telefonzelle ein gut erhaltenes Telefonbuch. Das Nachblättern ergab einen Treffer, es stand eine Firma im Buch, die so ähnlich klang wie die Firma in Cranks Gedächtnis. Crank stopfte also einen Teil seines letzten Kleingeldes in den Apparat und rief an. Auf der anderen Seite der Leitung war man über seinen Anruf einigermaßen erstaunt. Die Gesprächspartnerin wusste nichts von ankommenden Leiharbeitern. Sie war jedoch eine gewissenhafte Mitarbeiterin, und forschte nun gründlich nach. Kurz bevor das letzte Kleingeld im Bauch des Apparates verschwand, teilte ihm die freundliche Stimme jedoch mit, dass ihre Recherche ergebnislos verlaufen sei, sie könne leider nicht weiterhelfen... Hunger und Durst gaben dem impulsiven Wunsch, einfach mal vor Wut in den Hörer zu beißen, zusätzlich Vorschub.
Crank irrte also nun in dem Ort umher. Kein Geld, die fünf Biere längst getrunken, klebrige Kleidung auf der Haut, müde und sehr hungrig, und absolut keine Lust mehr auf diese verfluchte Reise.
Und das Schicksal hatte dann auch Erbarmen. Ein Einheimischer nahm sich die Zeit zu ergründen, in welche Firma unser verzeifelter Held wohl wollte. Und er kam zu der Ansicht, dass nur jene Firma gemeint sein könnte, die ca. eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt war. Crank lief los, und fühlte zum ersten Mal seit Längerem große Erleichterung, als gewünschte Hallen und Gebäude vor ihm auftauchten. Ja, das war nun wirklich die richtige Firma!
Natürlich arbeitete um diese Zeit niemand mehr dort, es war längst Feierabend. Der Pförtner am Eingang erklärte Crank, ja, seine Kollegen seien am Morgen pünktlich eingetroffen, und hätten schon ihren ersten Arbeitstag hinter sich. Sie wären zum Übernachten nicht hier auf dem Gelände untergebracht, sondern ein Stück außerhalb, und würden am nächsten Morgen per Auto wieder zur Arbeit gefahren werden. Der Pförtner organisierte nun eine Notunterkunft für Crank. Der legte sein geplagtes Haupt nieder und fand ziemlich schnell in den Schlaf.
Am nächsten Morgen gab es endlich ein erneutes, nun jedoch recht großes Hallo seiner Kollegen. Natürlich wurde sich ausgeschüttet vor Lachen, als Crank seinen Reisebericht ablieferte.
Crank war nicht wohl bei der Tatsache, dass er nun den Arbeitstag in seiner alten, inzwischen recht streng riechenden Kleidung absolvieren musste. Nach eigener Aussage war es schon die ganzen Tage „warm wie Puma“. Aber sein Gepäck hatte er immer noch nicht.
Ein Kollege sprach ihn am Feierabend an, er solle vor der Fahrt zur Unterkunft seine Reisetasche nicht vergessen, diese hätten die Kollegen gestern früh bei ihrer Ankunft hier in der Pförtnerbude deponiert...
Diese Welt gibt es nur, weil es Regeln gibt.
Beitrag zuletzt bearbeitet von Stueps am 31.03.2011 um 13:24 Uhr.
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