Eine der Folgerungen der Relativitätstheorie ist die Relativität der Gleichzeitigkeit: Ob zwei Ereignisse Gleichzeitig sind oder nicht, hängt vom Beobachter (vom Bezugssystem) ab. Interessanterweise ist das eine der Folgerungen, die am meisten abgelehnt wird. Anscheinend ist die Vorstellung einer universellen Gleichzeitigkeit so fest in unserer Vorstellungswelt verankert, daß es schwer fällt, diese Vorstellung aufzugeben und eine relative Gleichzeitigkeit zu akzeptieren. Das ist um so erstaunlicher, als die Idee einer universellen Gleichzeitigkeit eigentlich eine gewaltige Konstruktion ist: Es ist die Annahme, daß man zu zwei beliebigen Ereignissen eindeutig sagen kann, ob sie gleichzeitig sind, selbst wenn z.B. das eine Ereignis auf der Erde, das andere im Andromeda-Nebel stattfindet, und die beiden Ereignisse nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Diese Tatsache hat mich dazu gebracht, ein wenig über die Herkunft dieser Illusion nachzudenken.
Am Ausgangspunkt dieser Illusion steht auf jeden Fall die eigene Wahrnehmung. Die Wahrnehmung serialisiert die Dinge notwendigerweise, da unser eigenes Denken in einer linearen Zeit stattfindet. Das ist auch aus Sicht der Relativitätstheorie nachvollziehbar, da wir uns ja im Wesentlichen auf einer Weltlinie bewegen (wir sind natürlich ausgedehnt, aber das dürfte hier m.E. keine wesentliche Rolle spielen). Das heißt, es gibt eine "Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung": Dinge werden entweder als gleichzeitig oder als nacheinander wahrgenommen.
Nun gibt es viele Dinge, bei denen wir automatisch aus der unmittelbaren Wahrnehmung abstrahieren. Zum Beispiel sehen wir einen gekippten Gegenstand perspektivisch verkürzt. Dennoch gleichen wir diese Wahrnehmung quasi automatisch aus: Niemand nimmt an, die Leiter wäre echt kürzer, wenn sie gekippt ist. Ähnlich ist es auch mit der Tatsache, daß entfernte Dinge kleiner scheinen. Mit der Gleichzeitigkeit ist es hingegen anders, und das, obwohl die Extrapolation von der Gleichzeitigkeit in der Wahrnehmung zur Gleichzeitigkeit in der Welt gleich doppelt ist: Schon in einem "Newton-Universum" ist die Wahrnehmungsgleichzeitigkeit nicht identlisch mit der Welt-Gleichzeitigkeit: Wir nehmen den Blitz eher wahr als den Donner, obwohl beide gleichzeitig entstehen, weil der Schall langsamer ist als das Licht. Wir sehen Sterne, die längst erloschen sind, weil das Licht so lange unterwegs war, um die kosmischen Entfernungen zu durchqueren.
Interessanterweise ist es für uns durchaus kein Problem, diese Wahrnehmungs-Gleichzeitigkeit zu abstrahieren und zu verstehen, daß Dinge, die wir gleichzeitig wahrnehmen (z.B. der Stern und das Haus, über dem er gerade steht), deswegen nicht gleichzeitig sein müssen. Daß wir also eine Gleichzeitigkeit nur durch Rückrechnen der Wahrnehmungsgleichzeitigkeit bekommen ("dieser Stern ist 65 Millionen Lichtjahre entfernt, also sehen wir den Stern, wie er vor 65 Millionen Jahren war"). Und doch halten wir hier intuitiv am Konzept der absoluten Gleichzeitigkeit ("zu jener Zeit lebten auf der Erde noch die Dinosaurier") fest, obwohl wir diese Gleichzeitigkeit eigentlich nur rechnerisch erhalten, und es streng genommen eine ungeheure Annahme ist, daß diese Größe universell sein soll. Daß also eine Relativität der Gleichzeitigkeit eigentlich die natürlichere Annahme ist, und doch war die absolute Gleichzeit für uns so selbstverständlich, daß meines Wissens nicht einmal Philosophen auf die Idee gekommen sind, diese in Frage zu stellen, bevor die Experimente ein Problem mit dieser Vorstellung aufzeigten. Und selbst dann brauchte es einen Einstein, um zu erkennen, wo das Problem wirklich lag.
Warum also ist die absolute Gleichzeitigkeit so fest in unserer Vorstellung verankert, daß wir solche Probleme damit haben, daß es sie nicht gibt, während wir doch rein logisch eher vorher Probleme hätten haben müssen, daß es sie geben soll (eine Erkenntnis, die mir sicher nicht gekommen wäre, wenn ich nicht schon gewußt hätte, daß die absolute Gleichzeitigkeit nicht existiert - sie ist eben etwas, was man normalerweise nicht hinterfragt, und genau darin lag m.E. die Genialität Einsteins, daß er erkannt hat, daß es da überhaupt etwas zu hinterfragen gab).
Nun, wie gesagt, habe ich mir dazu schon ein paar Gedanken gemacht, aber jetzt ist das hier schon so lang geworden, daß ich die Gedanken aufs nächste Mal verschiebe. Vielleicht kommen dann ja noch ein paar weitere Gedanken hinzu
:-)
[Gäste dürfen nur lesen]